Phase 1: Internationale Musiktheorie und -praxis (November 2018 - April 2019)
Phase 2: Internationale Musiktheorie und -praxis (August 2019 - Februar 2020)
von Ursel Schlicht
Dieses Projekt wurde von Ursel Schlicht/SonicExchange in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Interkulturelle Musik e. V. veranstaltet. Wir bedanken uns herzlich bei der Abteilung Sozialplanung der Stadt Kassel und der Hessischen Staatskanzlei für die Förderung, die diesen Workshop möglich machte!
Musik als verbindende Sprache bietet für mich seit vielen Jahren starke Chancen, mit Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kulturen interessante Kommunikation und Möglichkeiten der Verständigung zu schaffen.
Seit in 2015 sehr viele geflüchtete Menschen in Deutschland ankamen, suchte ich gezielt Kontakt zu ihnen und experimentierte musikalisch mit neuen Ideen, die aus der Zusammenarbeit entstehen.
Erste Begegnungen fanden 2016 in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Kassel statt. Seitdem gab ich in verschiedenen Zusammenhängen Workshops. Nachdem diese zunächst mit großen, heterogene Gruppen stattfanden, richtet sich dieser Workshop an musikinteressierte Menschen verschiedener Kulturen, die bereits aktiv musizieren.
Die Internationalität garantiert eine spannendes Spektrum an Möglichkeiten. Schon das Leitungsteam ist international besetzt mit mir, Ursel Schlicht (Deutschland), Sam Munzer (Syrien) und als Gastdozentin Anne Vigier (Frankreich). Das Projekt ist eine hervorragende Chance, die eigenen Kenntnisse zu überprüfen, zu erweitern und voneinander zu lernen.
Interessierte kommen aus Syrien, Eritrea, Afghanistan, dem Iran, Irak und der Türkei. An Treffpunkten in Kassel wie der Salonmusik im Sandershaus (link) wird regelmäßig musiziert; alle sind willkommen, es kommen spontan Menschen unterschiedlichster Backgrounds. Dort entstand der Wunsch, musikalische Kenntnisse zu vertiefen und vor allem theoretische Grundlagen zu erlernen.
Mein Konzept ist darauf ausgerichtet, musikalische Grundbegriffe gleich in die Praxis umzusetzen. Wir verwenden zum Üben von Skalen, Intervallen und Melodien die Solmisation. Fast alle Sprachen verwenden do-re-mi-fa-sol-la-si do als Namen der Stammtöne, und dièse und bémol für das deutsche # bzw b zur Tonerhöhung bzw. Erniedrigung um einen Halbtonschritt. Diese Namen sind vielen vertraut und zum Lernen bestens geeignet. Parallel lernen alle die deutschen Namen C-D-E-F-G-A-H-C für die Stammtöne. Später sollen dann aus bestimmten Tonleitern eigene musikalische Ideen entwickelt und notiert werden.
Sam Munzer übersetzt für einige Teilnehmer ins Arabische und wir erarbeiten die musikalischen Fachausdrücke in mehreren Sprachen.
Zum Beispiel gibt es Worte auf Arabisch, Persisch oder Kurmanci, die mit denen aus westeuropäischen romanischen Sprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch) nahezu identisch sind. Nicht alle Begriffe sind identisch: z.B. umfasst der arabische Maquam mehr als die europäische Tonleiter und bezeichnet auch Details zur Spielweise. Die europäische Funktionsharmonik ist dagegen in vielen anderen Kulturen unbekannt.
Orientalische Rhythmen haben Namen, die das Metrum und die rhythmischen Betonungen beinhalten. In der Musikpraxis westlicher Kunstmusik und auch populärer Musik benennt man aber normalerweise nur die Taktart. Es liegt nicht grundsätzlich ein definierter Rhythmus zugrunde. Es gibt auch hier Tanzrhythmen mit konkreten rhythmischen Informationen. Die berühmte Orchesterkomposition Bolero von Maurice Ravel basiert auf dem Rhythmus des spanischen Bolerotanzes. Alte Tänze wie die Bourrée oder das Menuett gibt es im Folk und seit dem Barock auch in westlicher Kunstmusik.
Im November 2018 begann ein Workshop “Interkulturelle Musiktheorie und -Praxis” in meinem Musikraum im Kulturbunker.
In einer Pilotphase vom 24.11.2018 bis 15.12.2018 trafen sich die Dozenten und erste Interessierte.
Die Treffen begannen mit Aufwärmübungen mit der Stimme. Auf einen angestimmten Grundton bauten wir Töne auf und daraus ergaben sich erste theoretische Fragen. Was genau ist ein Grundton? Ein Intervall? Ein Motiv, eine Melodie? Welche Intervalle werden wo verwendet?
Diese Warm-ups wurden ein fester Bestandteil des gesamten Workshops. Jede Woche begann die Gruppe in einem Kreis damit, Töne, Intervalle, eine Skala oder Melodien gemeinsam in Solmisation zu singen, bei denen alle sich im wahrsten Sinne „aufeinander einstimmten“. Worte wie Tonart, Skala, Intervall etc. werden anschaulich und wesentlich besser verständlich, wenn sie direkt in die Praxis umgesetzt werden. Melodien bleiben mit Solmisation besser im Gedächtnis.
Handouts von mir erklärten musikalische Grundbegriffen wie Ton, Intervall, Tonleiter, Notennamen, Notation. Außerdem Dur und Moll sowie das Konzept der Modi - ionisch, dorisch, phrygisch, lydisch, mixolydisch, äolisch, lokrisch sowie verschiedene Moll-Tonleitern. Jede/r bekam eine Mappe mit allem Arbeitsmaterial, darunter auch Hilfen zur Notation samt Notenpapier, und einen musikalisch verzierten Bleistift mit Radiergummi zum Notenschreiben. Die "rote Mappe” soll jedesmal zum Workshoptreffen mitgebracht werden.
Ein weiteres Thema war Konsonanz - Dissonanz. Wir sangen, und es erklangen mehr als eine Phrase oder ein Motiv gleichzeitig. Sam und ich improvisierten mit Geige bzw. Flöte zwei Melodien, und die Gruppe sollte hören und diskutieren, ob jemand den Klang als konsonant oder oder eher als dissonant empfindet. Das Spektrum ist hier sehr weit und hängt von persönlichen Hörgewohnheiten ab sowie der kulturellen Prägung in der jeweiligen Welt. Dozent Sam betonte regelmäßig, es gebe bei unserer musikalischen Arbeit kein „falsch“. Wir sprechen von „passend“ oder „weniger passend“. Dies führte zu einem interessanten Austausch, weil niemand die exakt gleichen Empfindungen hat, es aber eine recht klare Schnittmenge gab, wie die Gruppe Konsonanz bzw. Dissonanz empfand.
Anne Vigier stellte ihr Instrument vor, die Drehleier. Sie zeigte den Bordunton, die Tonzerzeugung, die verschiedenen Spielarten. Sie erzählte uns von der Tradition des Instruments und seinen spielerischen Besonderheiten. Dadurch ergaben sich schnell Fragen zu musikalischen Begriffen: Der Bordun war der Grundton. Anne spielte mehrere Melodien, und es wurde für alle deutlich, dass der erste Ton einer Melodie nicht unbedingt der Grundton eines Stückes ist.
Die Gruppe lernte eine Bourrée, erst durch Singen und im zweiten Schritt an den Instrumenten. Außerdem sprachen wir über Takt und Metrum. Die Bourrée steht üblicherweise im 3/4- oder 6/8-Takt und wir probierten unterschiedliche Betonungsschläge. Dies inspirierte eine Diskussion über arabische Rhythmen.
Einige Teilnehmer brachten der Gruppe die Rhythmen Maqsoum, Baladi und Wahda bei.
Es wurde schnell deutlich, dass alle Interesse haben, eigene Musik aus dem Workshopmaterial zu entwickeln und die Ideen miteinander zu verknüpfen. Zum Beispiel spielte Sam die Melodie der Bourrée und leitete von dort mit einem Halbtonschritt zu einer arabischen Melodie über.
Wir probierten viel aus und luden am 15.12. zu einem offenen Termin ein. Dazu ein Bericht von der Flötistin und Musikpädagogin Christiane Janssen:
"Fast zufällig stieß ich, Blockflötistin und Musikpädagogin aus Hamburg, bei einem privaten Besuch in Kassel auf den Einführungsworkshop dieser Workshopreihe und wurde herzlich willkommen geheißen. Bisher noch wenig mit der interkulturellen Zusammenarbeit von Musizierenden vertraut, war ich gespannt, was mich erwarten würde. Begonnen wurde mit dem Singen bzw. Spielen eines gemeinsamen, lang ausgehaltenen Tons, aus dem jeder Einzelne mit einer improvisierten Tonfolge heraustreten konnte, um danach wieder im Gesamtklang zu verschmelzen. Eine schöne gemeinsame Einstimmung, nach der wir überlegten, wie wir unsere entstandene Musik eigentlich gestaltet haben. Dabei ergaben sich schnell Fragen wie: Was ist eine Tonart, was ein Maqam oder auch ein Grundton? Begriffe, bei denen jeder Musiker, der in seiner eigenen Tradition arbeitet und musiziert, denkt: „Das ist doch eigentlich ganz klar“. Ist es aber durchaus nicht immer, und so haben wir uns so manchen musiktheoretischen Begriff gegenseitig erklärt und Beispiele ausprobiert. Des Weiteren haben wir uns noch gemeinsam an einem Rhythmus versucht, der von allen auf den vorhandenen Handtrommeln, auf Darbouka, Cajon und anderem probiert wurde. Auch hier kamen schnell Fragen, Ideen, Vorstellung von Tanzschritten und Tanztraditionen und mehr auf. Schon in dieser kurzen Zeit dieses Einführungsworkshops entwickelte sich Freude am gegenseitigen Zeigen und gemeinsamen Ausprobieren. Es war schön zu erleben, wie sich jeder einbringt und mit welchem Interesse alle dabei waren. Dieser Nachmittag machte neugierig auf mehr und ich hoffe, dass der Workshop noch mehr Menschen anspricht, sich auf den Weg der musikalischen Verständigung und der Suche nach gemeinsamem Neuem zu machen."
Christiane Janssen, Trio-Musikhaus Schenefeld (Hamburg)
Intensiv-Wochenende am 12./13. Januar
Das Jahr begann mit einem Intensiv-Wochenende. Wir waren zehn Personen. Die wesentlichen Inhalte des Workshops waren, musikalische Grundbegriffe zu vertiefen, Noten (besser) lesen und schreiben zu lernen, Notenwerte und Rhythmen notieren zu lernen und selbst musikalische Ideen zu entwickeln. Im Lauf der folgenden Wochen sollten dann Grundlagen zu möglichen Formen eines Stücks besprochen werden, um einfache Arrangements zu probieren. Aus Liedern, Melodien, Rhythmen und allen Ideen, die in der Gruppe aufkommen, sollten selbst Musikstücke entwickelt werden, die im Laufe der Zeit arrangiert und gemeinsam aufgeführt werden könnten. Dies ist durchaus ein hoher Anspruch, der sich nach wenigen Workshoptreffen nicht von allen Teilnehmern realisieren lässt. Die Motivation, hier weiterzukommen, war und ist sehr hoch, und es folgen Beispiele, was in dieser Zeit entstanden ist.
19. Januar bis 29. März
Wir trafen uns nun wöchentlich für drei Stunden. Wir übten Intervalle und Tonleitern. Da viele Teilnehmer vor allem melodisch denken, wollten wir Dozenten zunächst verschiedene Tonleitern zeigen, aus denen dann Melodien gebildet werden können. Ich spielte auf dem Klavier alle Tonleitern, die sich von der Dur-Tonleiter ableiten lassen: Dur (ionisch), dorisch, phrygisch, lydisch, mixolydisch, äolisch und lokrisch. Um diese anschaulich darzustellen, improvisierte ich jeweils Beispiele, die den typischen Sound der jeweiligen Skala zeigten.
Europäische Musikerziehung betont zumeist die Dur-Tonleiter und die natürliche Moll- Tonleiter. Orientalische Musikerziehung betont vor allem die harmonische Moll-Tonleiter, die natürliche (äolische) Moll-Tonleiter und Kurd, den kurdischen Modus, der auch als die phrygische Skala bekannt ist. Moll-Tonarten sind häufiger und vielfältiger als das Dur.
Daher wählte ich eine Moll-Skala, die den bekannteren Skalen ähnlich und dennoch für alle relativ neu ist: die dorische Tonleiter. Sie erscheint auf der zweiten Stufe der Dur-Tonleiter. Das Besondere an der dorischen Tonleiter ist, dass sie die große Sexte enthält. Auf dem Klavier ist die Skala einfach zu erklären: spiele die weißen Tasten von Re (D) bis Re (D ́). Die reine Molltonleiter hätte den Ton B (si bémol) statt H (si).
Arabische Melodie in dorisch
Sam fiel spontan eine arabische Melodie ein, die diese Skala verwendet. Dies ist in arabischer Musik relativ ungewöhnlich und passte hervorragend. Sam spielte erst die dorische Tonleiter, dann
hier die Melodie von “Tag und Nacht”:
Die Aufgabe für das nächste Treffen war, eine eigene Melodie in der dorischen Skala zu schreiben. Dies ist eine schwerere Aufgabe, als es auf den ersten Blick erscheint. Innerhalb der nächsten Wochen brachten fünf Teilnehmerinnen und Teilnehmer eigene Ideen mit, die sie selbst notiert hatten. Es ist beeindruckend, wie interessant diese musikalischen Ideen sind, wie unterschiedlich sie klingen und welche Strategien angewandt wurden, um diese Aufgabe zu lösen.
Hier folgen Beispiele:
Dorische Melodie von Hamoudi
Dies war die einzige Melodie, die bereits in der ersten Woche fertig war. Sie besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil enthält eine Melodie, die in tieferer Lage wiederholt wird. Hier verwendet
Hamoudi nur die vertrauten ersten fünf Töne der Moll-Tonleiter. Der dritte Teil geht vom Grundton hinunter zum H (si), der dorischen Sexte, und wirkt wie ein Refrain. Wir übten sie in
Solmisation und arbeiteten an der Notation.
Dorische Melodie von Sami
Sami spielt seine Melodie. Sie ist von der Art her den orientalischen Melodien ähnlich, die vor allem ein melodisches Motiv verwenden und dieses sequenzieren.
Dorische Melodie von Trees
“Ich wollte bewusst etwas schreiben, das diese Skala verwendet und nicht orientalisch klingt” (Trees). Dies ist absolut gelungen. Die Melodieführung und die rhythmischen Elemente sind originell. Die Gruppe singt das Lied hier in Solmisation.
Wir notierten die Melodie und stellten fest, dass die Betonungen sehr unterschiedlich aufgefasst werden können. Trees hatte die Melodie mit einem Rhythmus im 4/4-Takt versehen. Die Phrasen sind aber unterschiedlich lang und es könnten verschiedene Metren verwendet werden. Wir haben ein rhythmisches Experiment gemacht. Hier spielen wir einen arabischen Rhythmus, der ganz anders ist als der von Trees verwendete. Er ist auch im 4/4-Takt.
Deniz schrieb ihre Melodie in dorisch.
Mustafa schrieb seine Melodie der äolischen Skala, nicht in dorisch. Für ihn ist Notation neu. Er hatte die Melodie so aufgeschrieben, dass ich verstehen konnte, was gemeint war. In einem Entwurf sah das dann so aus:
Wir schauen uns die Noten gemeinsam an. Konzentriert sind wir gemeinsam noch einmal auf die Besonderheiten seiner Melodie eingegangen.
Hier zeige ich, was Mustafa notiert hatte.
Alle Teilnehmer bemerkten, dass die Notation von Tonhöhen wesentlich leichter ist als die Notation von Notenwerten.
Jetzt war ein guter Zeitpunkt, einfache Notenwerte zu besprechen und zu üben. Hier stehen die Notenwerte an der Tafel und die Gruppe klatschte den unten stehenden Rhythmus, Matthäus spielt dazu Darbuka. Dies ist der erste Teil von Hamoudis Melodie.
Fertig notiert sieht die Melodie dann so aus:
Ende März wirkten wir bei der Kulturwoche Bettenhausen mit. Wir gaben Einblicke in den Workshop und trugen einige Beispiele unserer Arbeit im Sanderhaus vor.
Auch in der lydischen Skala wurde eine eigene Idee komponiert, die die Gruppe hier spielt und in Solmisation singt:
Sam schlug einen komplexen Rhythmus vor, mit dem wir diese Melodie begleiteten:
Ausblick
Das eigene Material ist so vielfältig, dass die Gruppe noch lange Zeit weiterarbeiten könnte, um diese Ideen zu Arrangements zu entwickeln.
Improvisation ist ein wesentlicher Schlüssel, flexibel mit Ideen umgehen zu können. Die meisten Teilnehmer haben Erfahrung mit Improvisation. Im Workshop zeigte sich, dass bei den sehr verschiedenen Hintergründen und Niveaus viel voneinander gelernt werden kann. Alle Teilnehmer haben in diesen Monaten ihr eigenes Musikverständnis erweitert und viel Neues dazugelernt. Es waren immer wieder Gäste dabei, darunter einige aus anderen Städten.
Musik wird vom Leitungsteam als eine starke Fähigkeit zur Kommunikation empfunden und vermittelt, als gemeinsame Sprache verschiedener Kulturen. Dies wurde auch von allen Teilnehmern verstanden und begrüßt. Ein nächster inhaltlicher Schritt war, die eigenen Ideen einfach zu arrangieren, ein einfaches Lead Sheet zu gestalten und über Formen, Begleitungen, Kontraste sowie harmonische und rhythmische Möglichkeiten zu sprechen. Wir empfinden diesen Workshop als ein wichtiges gesellschaftliches Experiment mit sehr viel Potenzial.
Dazu an dieser Stelle ein Statement von Trees:
"Workshop Interkulturelle Musiktheorie und -praxis
Durch den befreundeten Geiger Sam Munzer aus Syrien erfuhr ich vom Workshop Interkulturelle Musiktheorie und -praxis.
Ich bin begeistert von der Möglichkeit, an diesem dreimonatigen Workshop teilzunehmen. Ich war viele Jahre als Sängerin aktiv in den Bereichen Jazz, Pop, Rock und Fusion, in unterschiedlichen Zusammenhängen. Nach einer längeren Pause kehre ich nun zu meiner größten Passion Musik zurück. Ich schreibe und komponiere auch selbst Songs. Der Workhop bietet mir einen hervorragenden Zugang zu denjenigen Themen der Musiktheorie, die ich noch nicht wirklich vertieft hatte und die ich jetzt wunderbar mit meinem bisherigen Wissen und meiner Erfahrung verbinden kann.
Ursel Schlichts Konzept ermöglicht eine sehr praktische, spielerische Anwendung und Umsetzung des jeweiligen substanziellen Inputs, der außerdem gezielt international ausgerichtet ist. Was ich besonders schätze, ist die Begegnung mit den Teilnehmern, die, teils als Flüchtlinge, aus dem arabischen Raum nach Deutschland gekommen sind. Ich selbst bin Niederländerin und lebe schon recht lange in Kassel. Es macht sehr viel Freude, diese Menschen und ebenso ihre orientalischen Instrumente kennenzulernen.
Das gemeinsame Zuhören, Nachdenken, Erforschen und Musizieren macht einen Riesenspaß, und hier wird mal wieder klar: Es ist die persönliche Begegnung, die Qualität der persönlichen Begegnung, die darüber entscheidet, wie ich einen Menschen wahrnehme, erlebe und verstehe.
Ich bin sehr dankbar, dass ich beim Workshop dabei sein kann, weil da sogenannte Grenzen vollkommen überwunden werden und wir uns alle miteinander freuen über das, was wir machen und lernen."
Trees Wienck
von Ursel Schlicht
Dieses Projekt wurde von Ursel Schlicht/SonicExchange in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Interkulturelle Musik e. V. veranstaltet. Wir bedanken uns herzlich bei der Abteilung Sozialplanung der Stadt Kassel und der Hessischen Staatskanzlei für die Förderung, die diesen Workshop möglich machte!
Ursel Schlicht hat mit geflüchteten Menschen aus Syrien, Eritrea, Kurden aus verschiedenen Regionen Syriens, dem Iran, dem Irak oder der Türkei ebenso wie mit deutschen musikinteressierten Menschen gearbeitet.
In Phase 1 dieses Workshops vom 24.11. 2018 bis zum 6. 4. 2019 hatte sich eine motivierte Gruppe gebildet und musiktheoretische Grundlagen gelernt. Mehrere Teilnehmer konnten nun erfolgreich eigene Melodien in den vorgegebenen Tonskalen dorisch und lydisch bilden. Diese wurden gemeinsam im Workshop gehört, gesungen, gespielt und in Teilen auch notiert.
In der Praxis wurde allen deutlich, dass hinter jedem Begriff, auch den grundlegendsten Termini wie Ton, Klang, Note, Stimmung, Intervall oder Tonleiter, bei genauer Betrachtung ein weites Feld an physikalischen, historischen, ästhetischen und kulturellen Interpretationen auftut, was gerade in solch einer internationalen Gruppe spannende Diskussionen ermöglicht. Kenntnisse in musikalischen Grundlagen sollten nun weiterhin vermittelt und vertieft werden.
Mehrere Teilnehmer kamen aus der orientalischen Musik, aus Syrien, dem Irak, und aus Rojava, dem syrischen Kurdistan. In der arabischen Musik gibt es eine Vielzahl von Skalen und melodischen Wendungen. So standen zeitweise auch einige Besonderheiten der orientalischen Musik im Vordergrund, zum Beispiel die Verwendung von ausgewählte Skalen. Diese enthalten Vierteltöne und wir sprachen über deren Notation. Dies sind auch für westeuropäisch geprägte Teilnehmerinnen und -Teilnehmer spannende Gebiete, die normalerweise in westlicher Musik nicht mit gelehrt werden und diesen Workshop zu einem inter-kulturellen Forum machen.
Wir begannen Mitte August 2019. Sam Munzer und Ursel Schlicht wiederholten zunächst Intervalle, einfache Tonleitern, den Begriff des Leittons, und einfache Notenwerte. Es wurden Tonleitern, Intervalle und Akkorde gesungen, Rhythmen geklatscht, Melodien, Rhythmen und Musikstücke geübt, und sich mit dem Notenbild beschäftigt. Noten zu lesen und zu schreiben war ein wichtiges Thema. Es erfordert viel Zeit und Kontinuität. Die Gruppe hatte Lust, sich mit Rhythmen zu beschäftigen. Sam Munzer brachte uns orientalische Rhythmen bei, mit der von ihm empfohlenen (und in dem Kontext üblichen) Methode, die Rhythmen mit “dum” (tiefer Schlag) “tak” (hoher Schlag) und “es” (Pause) zu sprechen.
Sam schrieb für die Gruppe die Beispiele Maqsom (Maksoum), Baladi, Vals (Walzer) und Samai auf:
Der Maksoum im 4/4 Takt wird dann “dum tak es tak dum es tak es” gesprochen.
Wir üben, den Samai im 10/8 Takt - auf dem Bild unten notiert - zu sprechen: “dum es es tak es dum dum tak es es” Die Silben verteilten wir auf verschiedene Personen.
Hausaufgabe war, kurze rhythmische Patterns zu notieren. Sami brachte sehr gute Rhythmen ein, die wir dann durchgingen, klatschten, spielten.
Das fiel allen relativ leicht, aber die Notation war ungewohnt und schwer. Es wurde Schritt für Schritt probiert. Zum Schluss notierte ich dann noch einmal alles korrekt auf Notenpapier, für alle zum Mitnehmen.
An Wochenende 13./14. 9. 2019 präsentierten sich eine Vielzahl von Initiativen und Vereinen in Kassel auf dem Königsplatz, um einer breiten Öffentlichkeit Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung in Sport-und Kulturzusammenhängen zu zeigen. Es kamen am Freitag Vormittag zahlreiche Schulklassen.
Für die Teilnehmer vom Workshop “Interkulturelle Musiktheorie und -Praxis” war es das erste Mal, dass wir gemeinsam unseren Workshop präsentierten.
Als Leiterin halte ich es gerade in einem solchen interkulturellen Zusammenhang für sehr wichtig, gemeinsam nach außen zu gehen. Zur Vorbereitung gestalteten wir eine Stellwand, mit Materialien unseres Workshops sowie Fotos aus Projekten des Zentrums für Interkulturelle Musik. Sami und Hamoudi schrieben eine Begrüßung und einige musikalische Begriffe auf arabisch auf die Stellwand. Daraufhin kamen mehrere Schülerinnen und Schüler auf uns zu, die selbst als Muttersprache arabisch sprachen und sich freuten, auf arabisch angesprochen begrüßt zu werden. Zwei etwa fünfzehnjährige Mädchen kamen am nächsten Samstag zum Workshop. Sie waren erfreut und erleichtert, dass nicht “nur” Deutsche dort waren und sagten, sie hätten sich sonst nie getraut zu kommen. Ein arabisch sprechender Schüler besuchte uns am Stand und spielte spontan mit.
Die Stimmung war wunderbar, es wurde viel gelacht, das Wetter war gut, unsere Beiträge kamen gut an, obwohl unsere Materialien improvisiert waren und wir kein fester Verein sind. Wir gaben Handouts und Visitenkarten aus.
Da wir am Stand immer wieder musizierten, wurden wir dann am Freitag mittag ganz spontan gefragt ob wir kurz eine Caricatura-Ausstellung in der Markthalle mit Musik eröffnen könnten. Eine halbe Stunde später spielten Sami und ich in der Markthalle Melodien, die in unserem Workshop entstanden waren.
Für kurze Zeit wurde unsere Gruppe nun etwas größer. Alle zeigten große Motivation, den neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu helfen. Es war schön zu beobachten, wie Teilnehmer nun selbst grundlegende Termini erklärten. Die Niveauunterschiede waren nun allerdings sehr groß, und dadurch geriet der eigentliche Fokus kurzfristig aus dem Blick. Die Anfänger hätten einen eigenen Kurs gebraucht, und dafür waren es nicht genug Teilnehmer. Es war ein schönes Experiment, aber es galt, sich wieder auf die individuellen Stärken der Fortgeschrittenen zu konzentrieren. Wer von den Anfängern wollte, konnte passiv teilnehmen.
Wir kehrten zurück zum Thema Rhythmus. Ich stellte einen Ausschnitt von Steve Reichs “Music for Eighteen Musicians” vor.
Alle sollten sich zu Hause rhythmische Patterns überlegen. Trees schrieb gleich eine ganze Reihe von Rhythmen im 5/4 Takt. Wir beschäftigten uns mit der Notation und lernten die Rhythmen klatschen.
Ich harmonisierte die Rhythmen auf dem Klavier, damit sie leichter zu üben und zu merken waren. So entstand gleich ein kleines Musikstück.
Sam und Hamoudi stellten verschiedene Rhythmen vor, darunter den irakische Rhythmus Georgina im 5/8 Takt, den wir dann auch mit viel Freude übten. So widmeten wir die verbleibenden Wochen diesem Rhythmus und einigen von Sam eingebrachten Rhythmen im 6/4 Takt.
Bis zum Ende des Workshops diskutierten wir ebenfalls individuelle musikalische Fragen, und verabredeten, uns auch nach dem offiziellen Ende weiterhin in unregelmäßigen Abständen zu treffen.
Einmal brachte uns Sam verschiedene Rhythmen im 6/4-Takt bei, wie in diesem Beispiel. Sam dirigiert und zählt die Schläge im Video im Hintergrund.
Ein Workshop für junge geflüchtete Erwachsene
vom 18. bis 29. Juni 2018.
Von Dr. Ursel Schlicht
Dieser Workshop war eine Kooperation vom Zentrum für Interkulturelle Musik Kassel
und der Kirchengemeinde Matthäuskirche Kassel-Niederzwehren.
Wir wurden gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung:
"Ich bin HIER! Willkommen." Vielen Dank!
Vorbereitungen
Zum ersten Mal gestaltete ich einen interkulturellen Workshop im Team:
Sam Munzer studierte Geige in Damaskus und ist seit zwei Jahren in Deutschland. Ich lernte ihn im Café Matthäus kennen und wir haben seit Ende 2017 zusammen im Quartett “Arjin” gespielt und konzertiert. Sam spricht sehr gut englisch und deutsch und konnte so als Gastdozent und dazu als Dolmetscher mitwirken. Er übersetzte den Flyer mit der Workshopankündigung auf arabisch.
Anees Al-Bhuruzi habe ich ebenfalls im Café Matthäus als sehr hilfsbereiten und interessierten Menschen kennengelernt.
Er wohnte in 2017 in einer Gemeinschaftsunterkunft und half viel in der Matthäus-Gemeinde, auch um der Unterforderung in der Gemeinschaftsunterkunft etwas entgegenzusetzen. Er sprach noch nicht viel deutsch. Anees ist musikinteressiert und besuchte u.a. einen Workshop über Grundlagen des Keyboard-Spiels, den ich im Frühjahr im Stadtteilzentrum Wesertor gab.
Wir trafen uns am 26. Mai im Kulturbunker Kassel zur Vorbereitung. Wir sprachen über die Gründe und das Potenzial interkultureller Begegnungen durch Musik. Sam übersetzte für Anees auf arabisch und wir vereinbarten, gemeinsam Teilnehmer anzusprechen, die noch nicht lange in Kassel und in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind.
Beide, Sam und Anees, wohnen mittlerweile in eigenen Wohnungen. Mit Sam besuchte ich die Unterkunft Park Schönfeld, in der er auch Bekannte hat, sowie das Café Zuflucht, ein Treffpunkt dort in der Nähe.
Mit Anees besuchte ich die einzige Erstaufnahme in Kassel, die in 15-20 Minuten von der Matthäusgemeinde aus erreichbar ist.
Dort war es aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen notwendig, einen Termin mit den Sozialarbeitern zu verabreden, die sich ausführlich Zeit nahmen und das Projekt sehr begrüßten.
Wir wurden eingeladen, am Mittwoch, den 27. Juni auf dem dortigen Sommerfest aufzutreten. Dies betrachtete ich als eine optimale Möglichkeit der gegenseitigen Vernetzung und Begegung. Wir lernten bei unserem Besuch am 15. Juni zwei sehr interessierte junge Männer aus dem Iran kennen, die beide Klavier spielen. Ich lud sie ein, schon vorab an einem Fest des Kulturhauses 'Kulturbunker Kassel' am Tag der Musik (16. Juni) teilzunehmen, wo sie gemeinsam mit mir auch an einem gemeinsamen Community Drum Circle und dem gemeinsamen Singen teilnahmen.
Zusätzlich informierte ich alle relevanten Adressen – Kollegen, Kulturhäuser, Gemeinden, die Caritas, und eine Freundin am Kulturzentrum Schlachthof, die dort Deutschkurse gibt.
Dieser zweiwöchige Workshop mit dem Namen “Klingendes Café International” für zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer richtete sich an junge geflüchtete Erwachsene, die neugierig auf Musik als Weg eines gemeinsamen Austauschs sind.
Musik wird jenseits einer gemeinsam gesprochenen Sprache als kraftvolle und bereichernde Ebene der Verständigung genutzt. Die improvisatorische Flexibilität wird trainiert und es gilt, aufeinander zu hören und voneinander zu lernen, Fragmente aus Sprache und Musik zu verbinden, Rhythmen und Stimme als Ausdrucksmittel zu nutzen sowie Lieder und Geschichten aus verschiedenen Teilen der Welt kennenzulernen und zu gestalten. Konkrete Beschreibungen einzelner Tage vermitteln hier einen Eindruck.
Projektbericht
Montag., 19. Juni: Gruppenfoto im Gemeindesaal der Matthäus-Kirche.
Nicht im Bild: Anees (fotografiert) sowie zwei weitere Teilnehmer.
Montag, 18. Juni:
Am ersten Abend fand sich eine ausgesprochen heterogene Gruppe im Gemeindesaal der Matthäus-Kirche, die oben im Bild zu sehen ist: Unser Team mit mir, Ursel Schlicht, aus Deutschland, Wesam Munzer aus Syrien und Anees Al-Bhuruzi aus dem Irak, die Teilnehmer aus dem Iran, Eritrea, Syrien, dem Irak sowie ein kurdischer junger Mann und seine Mutter, außerdem eine Vertreterin des Kirchenvorstands, ein Sozialarbeiter und ein Angestellter des RP Gießen aus Kassel.
Die Verständigung erfolgte weitestgehend auf deutsch.
Nach einer kurzen Begrüßung stellten wir uns im Kreis auf und verbrachten die erste Stunde mit einem Warm-up der Stimme. Wir etablierten einen Grundton, auf dem wir dann konsonante Töne aufbauten. Die Wahl der Töne wurde immer freier und ging allmählich in kleine Melodien und Patterns über. Mehrmals bat ich alle im Kreis, einen Schritt nach vorn zu gehen, bis der Kreis so eng stand, dass ein gemeinsamer Gesamtklang stärker zu hören war als eine einzelne Stimme. Dadurch bewegen sich akustisch, physisch und auch emotional alle aufeinander zu und es entsteht ein von allen spürbares Gruppengefühl.
Einige in der Gruppe sangen längere Melodien. In so einer ersten Situation ist dies nicht selbstverständlich und zeigt hohe Musikalität. In einem passenden Moment teilte Anees Perkussionsinstrumente aus, ohne den musikalischen Fluss im Kreis zu unterbrechen. Ich baute die Musik so auf, dass das kollektive Singen in Call- und-Response-Übungen überging. Etwas später setze ich mich ans Klavier und begleitete die Gruppe, zeigte am Klavier den Grundton und die Phrasen, die sich entwickelt hatten. Ein iranischer und ein eritreischer Teilnehmer sangen klar und sicher. Johannes aus Eritrea sang uns ein Lied auf Tigrinya, das alle sehr schön fanden. Wir sangen die Melodie dann gemeinsam und das Lied ließ sich relativ schnell auf Instrumenten spielen.
Ich bat nun alle Teilnehmer um einen eigenen musikalischen Beitrag. Einige hatten wenig oder keine instrumentalen Vorkenntnisse und mehrere setzten sich zum ersten Mal in ihrem Leben an ein Klavier. Dies war jeweils ein besonderer Schritt, und jedesmal unterstützte die Gruppe solch einen Moment sehr.
Im anschließenden Gespräch sagte ich, dass ich offen für alle musikalische Wünsche bin. Wesam, der selbst Musiker ist und als Gastdozent mitwirkte, sprach über seine eigene Erfahrung, über die Musik als Geflüchteter in Deutschland eine sehr wichtige und spannende Ebene gefunden zu haben – musikalisch, emotional und sozial. Er ermutigte die Gruppe, sich in diesen beiden Wochen auf den Workshop einzulassen. Es war für alle spürbar, wie wir uns durch die Erfahrungen in diesen ersten Stunden bereits recht intensiv kennengelernt hatten. Die Stimmung war hervorragend. Alle wollten am kommenden Abend zur gleichen Zeit zum zweiten Termin kommen.
Dienstag, 19. Juni:
Wir trafen uns am gleichen Ort und begannen nach einem kurzen Warm-up sofort mit dem eritreischen Lied, das wir am Tag zuvor gelernt hatten. Jeder durfte Teile daraus am Klavier oder auf Xylophonen spielen.
Eritreische Musik basiert auf der Pentatonik. Ich erklärte die traditionelle Dur/Moll- Pentatonik, die aus Ganztönen und kleinen Terzen besteht und keine Leittöne enthält. Das Lied bestand aus drei melodischen Teilen, hatte keine großen Intervallsprünge und alle Anwesenden konnten mindestens einen Teil der Melodie wiedergeben. Mehrere konnten die ganze Melodie spielen. Dazu erfand ich eine Bassbegleitung und die Gruppe spielte das ganze Lied.
Ali K. aus dem Iran spielt gut Klavier
und spielte uns iranische Lieder vor,
die er selbst herausgehört und harmonisiert hatte.
Diese Lieder waren sehr schön und
wesentlich länger als das eritreische Lied.
Es war für alle spannend, Teile daraus zu lernen.
Ein Lied im Dreiertakt motivierte mehrere von uns,
dazu am Ende des Abends auch zu tanzen.
Das große Thema dieses Abends waren die Hörgewohnheiten: Im Unterschied zur Pentatonik der eritreischen Musik stehen die iranischen Lieder im Dur-Moll-System und enthalten melodische Verzierungen. Da einige in der Gruppe genug musikalische Erfahrung hatten, konnte ich die Unterschiede mit musiktheoretischen Begriffen detailliert erläutern.
Mittwoch, 20. Juni:
Am Mittwoch trafen wir uns im Institut für Musik der Uni Kassel. Dort leite ich das Seminar “Improvisation” und hatte den Vormittag als Begegnung der Workshopteilnehmer mit den Studierenden am Institut konzipiert. Dieser Vormittag war ein Highlight des Workshops. Zunächst bedeutete diese Begegnung eine Erweiterung des eigenen Erfahrungsschatzes für alle. Als Erweiterung des Sozialraums speziell für die Geflüchteten sind der Uni-Campus und ein Besuch des Instituts für Musik sehr wertvoll. Der Konzertsaal des Instituts für Musik ist sehr schön und großzügig gestaltet. Wir konnten ein hervorragendes Instrumentarium bereitstellen: ein großes Marimbaphon, ein Vibraphon, zwei Klaviere sowie Djembés für alle Teilnehmer.
Wir begannen mit einem Djembé-Kreis und spielten uns ein. Westafrikanische Djembé-Trommeln bieten auch für Anfänger ein sehr großes klangliches Spektrum. Wir sprachen über die Herkunft der Trommeln: jede ist aus einem Baumstamm von Hand hergestellt und somit ein Unikat. Jonas (Seminarteilnehmer) zeigte verschiedene Spieltechniken und ich reizte die Möglichkeiten des dynamischen Spektrums von sehr leise bis sehr kräftig mit der Gruppe aus.
An diesem Tag wurde weltweit der Weltflüchtlingstag begangen. Zurzeit sind 65 Millionen Menschen auf der Flucht.
Ich sagte, dass ich Musik hier als eine besondere, universelle Kraft empfinde, die in unserem Rahmen für eine gemeinsame positive Erfahrung, Toleranz und Akzeptanz genutzt werden kann.
Wir arbeiteten dann an dem eritreischen Lied. Dies läßt sich mit Marimba-und Vibraphon hervorragend umsetzen, da die Pentatonik auf diesen Instrumenten auch optisch deutlich abgesetzt und daher relativ einfach zu spielen ist.
Die Pentatonik wurde von allen gespielt und gemeinsam mit dem Material improvisiert, sodass das Lied in einen neuen, improvisatorischen Kontext eingebunden werden konnte.
Nach einer Weile gab es eine kollektive Stimmung, in der die Pentatonik nur angedeutet wurde und der Schwerpunkt sich auf improvisatorische Beiträge verlagerte.
Anschließend war noch Zeit für das iranische Lied vom Vortag im Dreiertakt.
Auch hier ergaben sich neue klangliche Welten und eine Diskussion über Hörgewohnheiten, Dur/Moll-Tonalität, universelle Tonfolgen wie die
Pentatonik und die verschiedenen Ebenen klanglicher Kommunikation.
Musikalisch war dieser Vormittag ausgesprochen
spannend und fand auf einem sehr hohen Niveau statt.
Mittags gab es ein gemeinsames Ausklingen im Café auf dem Campus
mit denen, die nicht sofort zu ihrem nächsten Termin mussten.
Persönlich ergaben sich daraus Gespräche zwischen jungen
geflüchteten Erwachsenen und Studierenden in ähnlichem Alter.
Dabei gab es praktische und wertvolle Tipps rund um das Studium.
Donnerstag, 21. Juni:
Heute war der Kreis etwas kleiner und der Fokus lag auf dem Klavierspiel.
An diesem Tag kamen die fortgeschrittensten Teilnehmer: Ali und Benjamin, die beide Klavier spielen, und Johannes, der auch in der Uni dabei war.
Ich zeigte Übungen mit zehn Fingern, die alle machen konnten. Dann übten alle das eritreische Lied, bis jeder es spielen konnte. Nun zeigte ich Dur-und Molltonleitern und erläuterte die historischen Entwicklungen von Natürlich Moll, Harmonisch Moll und Melodisch Moll.
Wir harmonisierten das iranische Lied und ich erklärte Umkehrungen von
Akkorden und wie in verschiedenen Akkordlagen die Grundtöne erkannt werden können.
Zwar waren auch einige dabei, die diese theoretischen Informationen leicht überforderte, aber da die Gruppe etwas kleiner war, konnte ich sehr konzentriert mit jedem eine Zeit am Piano verbringen und jeden individuell fördern.
Einer der Iraner spielt nach Noten und sagte, dass ihm das Spiel nach Noten wesentlich leichter falle als nach Gehör; ich nahm mir vor, Notenmaterial für ihn herauszusuchen und mitzubringen.
Freitag und Samstag, 22./23. Juni:
Einladung zur Probe und zum Konzert “Match Music” im Kulturhaus Dock 4.
Nach vier Abenden Workshop und am Ende einer Woche, an der die meisten tagsüber parallel auch Kurse und Schulen besucht hatten, waren alle ganz dankbar für eine Pause.
Wer wollte, konnte Probe und Konzert von Match Music miterleben. Dies war ein Konzept des Kasseler Musikers Martin Speicher für elf Musiker zum Weltcup-Fußballspiel Deutschland gegen Schweden.
Das Konzept nahm Aspekte des Fußballs humorvoll auf und forderte die Musiker stark, da 90 Minuten lang 25 “Taktiken” umgesetzt wurden. Manchmal musste punktgenau auf das Spiel eingegangen werden, manchmal gab es Spielrollen,
die ähnliche Teamwork verlangten wie beim Fußball, durchsetzt mit lustigen Momenten.
Anees dokumentierte einen wichtigen Moment, nämlich das Finale des Konzerts, das hochintensiv konzipiert war und tatsächlich auch fußballerisch fantastisch passte mit dem umjubelten Tor von Toni Kroos in der Nachspielzeit.
Zum Konzept Match Music:
"Das Ensemble "IM ABSEITS" präsentiert am 23. Juni eine ungewöhnliche musikalische Performance zur Fußballweltmeisterschaft.
Zur rein optischen Live-Übertragung des Spiels Deutschland - Schweden werden die sportlichen Parameter einer solchen Begegnung durch verschiedene konzeptionelle Entwürfe unmittelbar in Musik umgesetzt. Der Ablauf des Ballspiels bedingt also den Ablauf des Klangspiels. Das Ensemble "IM ABSEITS" läuft dabei in Mannschaftsstärke auf, mit einer Vielzahl von Instrumenten, deren Einsatz sich den Regeln und Aktionen auf dem Spielfeld zuordnen. Dass das Ganze auch eine humorvolle Seite haben wird, scheint unumgänglich. Dieses einzigartige Ereignis bietet Menschen, die sich nicht zwischen Sport -und Kunstereignis entscheiden können, eine rundum befriedigende Alternative. --- Es spielen:
Dirk Marwedel - Erweitertes Saxophon, Detlef Landeck - Posaune, Steffen Schmitt - Trompete/Flügelhorn,
Marko Perels - Gitarre, Joshua Weitzel - Gitarre/Elektronik, Ursel Schlicht - Piano, Silvia Sauer - Stimme,
Georg Wolf - Kontrabass, Sven Krug - Kontrabass, Jörg Fischer - Schlagzeug, Martin Speicher - Saxophone/Klarinette.
Das verehrte Publikum ist auch angehalten, eigene Geräuscherzeuger zur Steigerung des Vergnügens mitzubringen.
Konzeption und Spielleitung: Martin Speicher."
Sonntag, 24. Juni:
Workshop-Treffen im Kulturbunker Kassel.
Der Kulturbunker Kassel ist ein außergewöhnliches Haus, in dem neben vielfältigen musikalischen Aktivitäten auch Theater, Architektur und auf dem Dach z.B. eine Imkerei Platz finden, unterirdische Führungen angeboten werden und mehr.
Um innerhalb der Workshopzeit möglichst unterschiedliche Orte in unterschiedlichen Stadtteilen kennenzulernen, fand der Workshop am Sonntag hier statt.
Der Fokus lag auf arabischer Musik und arabischen Maquams, also den Skalen, auf denen arabische Musik basiert.
Sam zeigte an der Geige verschiedene Skalen und erklärte außerdem einen grundlegenden arabischen Rhythmus.
Es gab eine interessante Diskussion, warum einige arabische Lieder so bekannt und beliebt sind. Mehrere Teilnehmer sagten, dass sie die berühmte Sängerin Fairouz, die sie alle kennen und schätzen, mit morgendlicher Stimmung und Jasminduft verbinden. Interessant war, dass dies sowohl von jemand aus Damaskus wie auch von jemandem aus dem Nordirak empfunden wurde.
Montag, 25. Juni und Dienstag, 26. Juni:
An diesen Tagen fanden die Treffen wieder um 18.00 Uhr im Gemeindesaal statt.
Einige kamen wieder, die am Wochenende nicht konnten. Es war gut, einen Hauptort zu haben, den alle kannten.
Da wir eingeladen waren, am Mittwoch eine Aufführung zu geben, drehte sich am Montag und auch am Dienstag vieles um das Proben und die Arrangements der Lieder und Musikstücke, die wir bereits kennengelernt hatten.
Schön, aber nicht einfach war ein iranisches Lied, das Ali am Piano sehr gut und sicher spielen konnte. Wir begannen, Teile aus dem Lied zu singen und instrumental zu üben, und es war eher eine Probenatmosphäre als die offene Workshop-Stimmung der ersten Woche. Zu erleben, wie ein Stück dann mit einem Ensemble geprobt wird, war auch interessant für weniger erfahrene Teilnehmer: Wie zählt man ein, wie gibt man Einsätze, wie arrangiert man die Ideen abwechslungsreich, wie oft wiederholt man einen Teil, so dass er sicher wird etc.
Erfreulicherweise kamen wieder neue Teilnehmer dazu: zwei junge Geschwister aus Syrien hatten von einer Betreuerin von dem Workshop erfahren. Diese rief mich am Wochenende an und fragte, ob es noch Sinn mache, in den Workshop hineinzuschnuppern. Die beiden kamen dann am Montag, am Dienstag und auch am Mittwoch zum Konzert.
Am Dienstag kam außerdem Benaz, die Mutter von Benyamin. Sie und Benyamin wohnten in der Erstaufnahme, in der am Mittwoch auch unser Beitrag zum Sommerfest stattfinden sollte. Benaz kannte das iranische Lied und konnte es sehr schön singen.
Die neuen und weniger fortgeschrittenen Teilnehmer konnte ich so gut es ging einbinden. Alle machten einen interessierten und motivierten Eindruck und ich versprach, dass man sich auch nach dieser ersten intensiven Zeit nochmal zur Nachbesprechung und eventuell auch zu weiteren Begegnungen treffen kann.
Mittwoch, 27. Juni:
An diesem Tag fand das Sommerfest in der Erstaufnahme in der Frankfurter Straße statt.
Ursprünglich war angedacht, an dem Tag im Café Matthäus International zu spielen. Beides war logistisch nicht zu bewältigen. Dem Team vom Café Matthäus war es sehr viel lieber, den Termin zu verschieben.
Außerdem lief am Nachmittag ein Spiel der Fußball-WM. So hatten wir uns seit Montag darauf konzentriert,
den heutigen Auftritt beim Sommerfest in der Frankfurter Straße vorzubereiten.
Dafür, dass diese heterogene Gruppe sich noch nicht lange kannte, lief die Aufführung sehr gut.
Ein großes Plus bestand darin, dass drei Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Camp sowie mein Helfer Anees dabei waren. Dies erfreute viele Bewohner und Mitarbeiter.
Unser Auftritt dauerte lange und war der einzige Live-Beitrag des Abends. Die Stimmung war sehr positiv.
Wir konnten uns in dieser Situation nicht wirklich als Gruppe verabschieden. Es gab viel abzubauen und zu transportieren.
Am nächsten Morgen hatten zwei Teilnehmer ihren Transfer nach Kassel, mehrere hatten Prüfungen.
Ein kleines Abschlusstreffen fand später statt und wir beschlossen, in Kontakt zu bleiben und uns wiederzusehen.